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Stadt Wolfratshausen: "Hirngespinste" - Gerd Anthoff liest J. Bernlef

Imaginierte Gefühlswelt eines Alzheimerkranken

von Benjamin Engel

Wolfratshausen, 20.10.2016 – Es beginnt ganz alltäglich und doch künden bereits feine Risse vom rasanten geistigen Verlöschen des Maarten Klein: Mit seiner Frau Vera lebt der 71-jährige Mann im Ruhestand in einem Haus im US-amerikanischen Bundesstaat Massachusetts. Wie jeden Tag schaut er aus dem Fenster und wundert sich. Er vermisst, wie die Kinder am Morgen zur Haltestelle des Schulbusses strömen. Doch dann serviert seine Frau den Nachmittagstee und er merkt mit Blick auf die Uhr, dass es schon 15 Uhr ist und gar nicht wochentags, sondern Sonntag, wo überhaupt keine Schule ist. Damit kündet sich das zentrale Thema des Romans „Bis es hell wird“ – erstmals auf Deutsch als „Hirngespinste“ veröffentlicht – von J. Bernlef an: die Gefühlswelt und die Reaktion von Maarten auf das Fortschreiten seiner Alzheimer-Erkrankung.Im Foyer der Loisachhalle schlüpft der Schauspieler Gerd Anthoff bei seiner Lesung im Foyer am Freitag in die Rolle von Maarten, lässt die 40 Zuhörer an dessen Gedankenstrom teilhaben.

Es wird zu einem intensiven, berührenden Abend. Denn Anthoff gelingt es, die imaginierte Gefühlswelt des Alzheimerkranken plastisch erfahrbar zu machen. Er spielt facettenreich mit Stimme und Gestik, bringt damit die Stimmungsschwankungen der Hauptfigur vom anfänglichen Verharmlosen der ersten Anzeichen der Krankheit, die aufflackernde Einsicht und die plötzliche Wut über ein entfallenes Wort den Zuhörern beängstigend nahe. Martin Kälberer am Klavier verstärkt das Gefühl zunehmender Hilflosigkeit und Verzweiflung noch. In die anfangs harmonischen Piano-Melodien mischen sich zunehmend schräge Töne.

Mit fortschreitender Krankheit löst sich die vertraute Lebenswelt von Maarten stetig auf. Am Anfang sind es nur kleine Aussetzer: Er vergisst seinen Kaffee auszutrinken oder Holz von draußen hereinzuholen, obwohl seine Frau ihn darum gebeten hat. Er entschuldigt das, damit eben schon immer vergesslich gewesen zu sein. Dann plündert Maarten den Kühlschrank, stopft unkontrolliert und maßlos alles in sich hinein, was er finden kann, weiß kaum mehr Tag und Nacht zu unterscheiden und erkennt schließlich nicht einmal mehr seine Frau.

Und dann ist da noch der frische, zu Boden schwebende Schnee: Die feinen Eiskristalle und bauschigen Flocken verwandeln alles in eine makellose weiße Fläche, unter der die Spuren der Menschen einfach verschwinden. Die frisch gefallenen Schneekristalle legen sich wie ein weicher Teppich über den Boden, decken alles zu. Die feinen Flocken verwandeln die Landschaft in eine makellos weiße Fläche, alle Spuren der Menschen verschwinden darunter. Der Schnee wird zur Chiffre der fortschreitenden Alzheimer-Erkrankung, die jegliche Erinnerung an das eigene Leben langsam auslöscht.

Als seine Frau schließlich eine Pflegerin ins Haus holt, flackert die Erkenntnis plötzlich auf: „Ich spalte mich von innen her auf.“ Dann verliert Maarten immer mehr an Halt, macht sich für die Arbeit fertig, obwohl er längst im Ruhestand ist. Und immer wieder sucht er nach Worten. Fast unerträglich lange dauert es, bis ihm die Fasern am Tischtuch als Fransen deutlich werden. Dann versinkt Maarten in Kindheitserinnerungen. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto abgehackter spricht auch Anthoff, ballt die Hand zur Faust, wenn er wütend wird und spricht in dessen klaren Momenten zärtlich und sanft. Fast quälend wird es, wenn Anthoff im Gedankenstrom von Maarten nur noch die Worte „Kopfschmerzen, Kopfschmerzen, Durst“ hervorstößt und davon liest, dass er die Lippen bewege, damit vielleicht doch wieder Wörter in seinen Kopf kämen. Oder als der Erkrankte sich selbst im Fenster gespiegelt sieht und doch  nur irgendeinen alten Mann im Schlafanzug erkennt.

Die Idee, mit dem Roman von J. Bernlef auf Tour zu gehen, ist zum 25-jährigen Jubiläum der Münchner Alzheimer Gesellschaft entstanden. Dazu sollte Anthoff vor fünf Jahren eine Benefizlesung übernehmen und stieß auf das Buch. Damit zwingt Anthoff das Publikum zu ernsthafter Auseinandersetzung und Nachdenken. Und doch endet der Abend mit viel Applaus. Und das ist auch im Sinne des Schauspielers. Denn wann immer er die Lesung gemeinsam mit Kälberer anbiete, spüre er oft viel Reserviertheit, sagt er. Doch für ihn sei der Roman zunächst fiktiv und solle auch unterhalten.


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