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Autorin Tanja Kinkel stellt neuen Bestseller Roman in Wolfratshausen vor

Im Angesicht des Terrors

Von Claudia Koestler

Wolfratshausen, 8.5.2017 – Tanja Kinkel las am vergangenen Donnerstag aus ihrem neuen Bestseller-Roman „Schlaf der Vernunft“ im Foyer der Loisachhalle. Das Drama von Schuld und Vergebung vor dem Hintergrund des Deutschen Herbstes faszinierte ihre Zuhörer. Der Autorin gelang ein umfassender, persönlicher Einblick in die Seele eines Landes und eines Volkes. Ihr neuer Roman eröffnet trotz fiktiver Charaktere neue, persönliche Dimensionen zum komplexen Thema von Schuld und Leid im Angesicht des Terrors.

„Was für den einen ein Terrorist, ist für jemand anderen ein Freiheitskämpfer": Dieses berühmte Zitat aus Gerald Seymours Buch „Harry's Game" bezieht sich auf die Irish Republican Army (IRA), lässt sich aber genauso auf andere Konflikte weltweit ausweiten. Zum Beispiel auf den sogenannten Deutschen Herbst, als die Rote Armee Fraktion (RAF) 1977 die Öffentlichkeit mit blutigen Attentaten und Geiselnahmen in Atem hielten.

Die Frage von Schuld und Sühne

Der Roman „Schlaf der Vernunft" von Tanja Kinkel spielt vor dem Hintergrund des Deutschen Herbstes und stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie Täter und Opfer, insbesondere auch die Nachkommen von Opfern und Tätern, mit der Frage von Schuld und Sühne umgehen. Im Kontext von Ursache, Schuld, Strafe und Leiden können Täter zugleich Opfer sein, Opfer zu Tätern werden.

Wer die Sechziger oder zumindest die Siebziger Jahre erlebt hat, hat meist die Taten der Roten Armee Fraktion zumindest noch in kleinen Erinnerungsschnipsel im Gedächtnis, entweder als Schlagzeilen oder über die allgegenwärtigen Fahndungsplakate. Das gilt auch für die Autorin Tanja Kinkel. Allerdings, so erzählte sie in Wolfratshausen, gab es bei ihr auch einen sehr persönlichen Bezug: Ihre Familie war befreundet mit Hans de With, damals parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium. Als solcher stand er auf der Gefährdeten-Liste, was sich insofern auch für Außenstehende und Freunde bemerkbar machte, als er nicht mehr ohne Begleitschutz vorbeischauen konnte. Als Kinkel zudem vor einigen Jahren ein Buch von Julia Albrecht und Corinna Ponto las, habe sie das tief erschüttert und die Frage geweckt, wie Angehörige von Tätern und Opfern den Deutschen Herbst wohl erlebt haben mögen. Viel zu oft blieben ihr zufolge die Leiden der Opfer unerwähnt. Kinkel wollte deshalb in ihrem Buch beide Blickwinkel zu Wort kommen lassen. Um aber den realen Opfern wiederkehrenden Schmerz zu ersparen, „keine Bilder von der Ermordung ihrer geliebten Verwandten neuerlich in den Kopf zu pflanzen", wie Kinkel sagte, verknüpfte sie in „Schlaf der Vernunft" geschickt erfundene Schicksale mit bekannten Figuren der Zeitgeschichte:

Zum Inhalt

Die (fiktive) Terroristin Martina Müller wird 1998 nach 20 Jahren Haft begnadigt. Sie war beteiligt am Attentat auf den (ebenfalls fiktiven) Staatssekretär Werder, bei der nicht nur der Politiker, sondern auch seine Begleiter ums Leben kamen. Müllers Entlassung wird zur Belastungsprobe für die Hinterbliebenen, genauso aber auch für ihre Tochter Angelika, die seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr hatte. Auch Steffen Seibert, Personenschützer und einziger Überlebender des Attentats, wird durch die Entlassung von Müller von der Vergangenheit eingeholt.
Es sind Zweifel, Ungewissheit, Wut und Trauer, die die Personen in Kinkels Buch in vielen Facetten umtreiben, genauso wie die Frage nach Versöhnung, was einen neuen, so reflektierten wie nahbaren Zugang zum komplexen Thema schafft.

Das Wolfratshauser Publikum stellte nach der Lesung, während derer sie hochkonzentriert lauschten, interessierte Fragen. So erfuhren sie zum Beispiel, dass der Titel des Buches entlehnt sei von Francisco de Goyas Bild „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer". Auch zur grundsätzlichen Herangehensweise von Kinkel an ein Buchprojekt hakten die Anwesenden nach. Kinkel erklärte, dass sie meist rund zwei Jahre für ein Projekt einplane, von denen die Schreibarbeit den geringsten Teil ausmache. Mindestens eineinhalb der zwei Jahre recherchiere sie akribisch und trage Fakten zusammen, die dann Plots und Charaktere vorantreiben. Die erste Fassung eines Romans sei dann für sie „kein Problem" – aufwendiger und anstrengender aber seien die Korrekturen hinterher. Denn kein Buch bleibe bei seiner ersten Fassung, erklärte Kinkel. Anders als Kollegen sei sie zudem eine Autorin, die tagsüber arbeite – und äußerst diszipliniert. Sogar eine kleine Anekdote teilte sie: nämlich dass sich heute ein früherer Deutschlehrer damit rühme, sie sei seine beste Schülerin gewesen. Kinkel aber hat explizit andere Erinnerungen an seine Kommentare während der Schulzeit. Ein Abend also, der nicht nur zur weiteren Lektüre anregte, sondern auch zum Nachdenken. Mit anderen Worrten: eine Lesung, die nachhallte.

Fotos: Claudia Koestler


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