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Erster Poetry Slam in Wolfratshausen

Die Nacht der jungen Dichter

Thekla Krausseneck

Wolfratshausen, 24.8.2016 - Voller Erfolg für den 1. Wolfratshauser Poetry Slam. Die Autoren reisen aus München, Coburg, Weißenburg und Höhenkirchen an und tragen Perlen neuer Literatur vor

Man muss ihn einfach bewundern, diesen heimatverbundenen Senior, der da mutig die Bühne betritt. Er fällt völlig aus der Reihe: Keine Allüren, keine Comedy, keine selbsterklärende Vorrede, wie bei den anderen. Der Wolfratshauser Otto Berchtenbreiter tritt gemütlich ans Mikro und trägt ruhig und bescheiden seine zwei Gedichte vor, die er zum Poetry Slam mitgebracht hat. Sie handeln weder von den großen gesellschaftlichen Problemen der heutigen Zeit noch reflektieren sie ein zerrissenes Seelenleben: Ihre „Paten“, wie er sagt, sind ein 180 Jahre alter Baum – und die Loisach.

Nur einer aus Wolfratshausen hat sich getraut

Berchtenbreiter ist der einzige Dichter aus der Region, der sich getraut hat. Die Veranstalter des sehr gelungenen 1. Wolfratshauser Poetry Slams – sie heißen Mic Mehler und Christoph Hebenstreit und nennen sich zusammen „Reimrausch“ – hatten neben den zehn geladenen Gästen zwei Plätze freigehalten für Dichter aus dem Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Mit Berchtenbreiter konnte leider nur ein Platz besetzt werden. Doch der Erfolg des ersten Wettbewerbs spricht für eine Wiederholung im nächsten Jahr, die neue Chancen offerieren wird. Gut 100 Zuschauer sind gekommen, die den Wolfratshauser Sitzungssaal bis auf den letzten Platz füllen. Die Vorträge der Dichter und der Applaus ihrer Zuhörer dringen bis kurz vor Mitternacht aus den Fenstern.

Die angereisten Künstler könnten unterschiedlicher nicht sein: Der Münchner David Appleson erzählt von seinen Selbstgesprächen, die er nicht führe, weil er einsam sei, sondern weil er sich selbst für den kompetentesten Gesprächspartner halte. Martin Geier aus Weißenburg echauffiert sich auf der Bühne über seine frühere Mitschülerin Melanie, deren Namen er vor lauter Abscheu nicht aussprechen könne, weshalb ihm das Publikum diese Bürde lautstark abnimmt. Caroline A. trägt einen Offenen Brief an Heidi Klum vor, die ein Ideal propagiere, das nicht normal werden dürfe: „Liebe Heidi“, beginnt das Schreiben, „wie kannst du noch in den Spiegel schauen?“ Nadine von Grünwald aus Coburg berichtet von der laut tickenden Standuhr ihres Großvaters, in die sie sich als Kind verliebt habe – und ihrer Erkenntnis, wie sehr sich die Wahrnehmungen der Menschen unterschieden, da die Uhr ihrem Großvater nicht genauso viel bedeutet habe.

Weil jeder für seinen Vortrag nur sechs Minuten Zeit hat, folgen die Beiträge Schlag auf Schlag. Die Stimmung ist gut, die Atmosphäre dicht, die Dichter unterhaltsam. Sechs Jury-Mitglieder, die mit ihren weißen laminierten Punkte-Katalogen im Publikum verteilt sitzen, bewerten die Auftritte mit bis zu zehn Punkten, wobei die beste und die schlechteste Note jeweils gestrichten werden. Kaum einer bekommt weniger als sieben von zehn Punkten. Der Überflieger des Abends ist der in München lebende Bonner Yannik Sellmann, dem die Jury fast durchgehend neun Punkte verleiht und der mit dem mit Abstand besten Ergebnis ins Finale einzieht, gemeinsam mit dem Franken Ingo Winter und der jungen Dichterin Antonia Lunemann aus Höhenkirchen. Hat bis zum Finale noch die Jury die Künstler bewertet, liegt es im Finale am Publikum, mit seinem Applaus den Sieger zu küren.

Ein paar Minuten das Gefühl der Beste zu sein

Sellmann widmet sein finales Gedicht dem Thema Selbstvertrauen. Wenn er jemandem anvertraue, dass bei Poetry Slams mitmache, komme immer gleich die Frage, ob er denn auch gut sei. Sellmann nimmt die Frage zum Anlass, um mal so richtig zu übertreiben. Sein Text trage den Titel „Wäre Hitler bescheiden gewesen, hätte er nach Polen aufgehört“, sagt Sellmann und legt los: Er sei so gut, bei jedem seiner Auftritte würden 15 Quadratmeter Regenwald gerettet und drei neue Pandas geboren; seine Spucke werde gesammelt und im Kölner Dom neben Petrus‘ Rippe ausgestellt; und außerdem habe er „richtig was drauf, denn die Sprache wohnt bei mir im Keller an der Leine“. Am Ende lässt Sellmann den Spaß beiseite und wird ganz bodenständig. Ein solches Selbstvertrauen wäre schön, sagt er. Doch genau das sei der Sinn des Poetry Slams: Dass man einmal für ein paar Minuten das Gefühl haben dürfe, der Beste zu sein, um dann wieder auf den Teppich zurückzukehren.

Während das Publikum bei Sellmann vor Lachen unter dem Tisch liegt, verlassen sich Winter und Lunemann im Finale auf nachdenkliche Themen. Winter zählt auf, was er alles gern täte – etwa in die Vergangenheit reisen, um Albert Einstein die Formel der Relativitätstheorie ins Ohr zu flüstern, oder in die Zukunft, um auf der Enterprise mitzumischen. Weil er das aber nicht könne, müsse er im Hier und Jetzt leben und jeden Moment auskosten. Gegenstand seiner Kritik ist das Handy-Foto. Mit diesem könne man nur die Vergangenheit festhalten, doch dabei verpasse man den Augenblick. Lunemann widmet sich dem Thema Glück, das von „glücklich sein“ komme. Das Publikum kann sich vor Begeisterung über alle drei Finalisten kaum auf den Stühlen halten, und weil schwer herauszuhören ist, wer am meisten Applaus erhält, entscheidet letztendlich das Reimrausch-Duo Mehler und Hebenstreit, wer den ersten Preis bekommt: Es ist die junge dichterin Lunemann.

Fotos: Thekla Krausseneck

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