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Musikalische Lesung im Garten der Stadtbücherei Wolfratshausen

Ganz nah am Puls der Zeit

von Claudia Koestler

Wolfratshausen, 9.7.2016 - Friedrich Hollaender, der alte Kabarettmusikfuchs und Gründer des Tingel-Tangel-Theaters, hatte es schon früh erkannt: Bei den Chansons und Couplets der 20er und 30er Jahre könne, wie nirgendwo anders, „unter dem Deckmantel entspannender Abendunterhaltung plötzlich eine Giftoblate verabreicht werden, die das gemütlich rollende Blut entzündet, das träge Hirn zum Denken aufreizt“.

Jedenfalls gibt es bis heute kaum Vergleichbares zu den, mit ihrer Süffisanz, ihrem sarkastischen Witz und Esprit. Diese Glanzzeit des Kabarettliedes mit einem Hauch Operette und Jazz gepaart mag mit manchen Schlagern der folgenden Jahre verwässert worden sein – doch immer wieder blitzen auch bei diesem Liedgut diese Wurzeln durch. Das belegte ein ganz besonderer musikalischer Abend am Donnerstag: Zu einer musikalisch-literarische Zeitreise von 1929 bis 1969 unter der Maxime „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein“ hatten Julia von Miller, Anatol Regnier und Frederic Hollay in den Garten der Stadtbücherei Wolfratshausen eingeladen. Und auch, wenn viele Mücken surrten – unüberhörbar war das Schnurren des Publikums während des Vortrags, der vergangene Zeiten wieder lebendig werden ließ und dem lauen Sommerabend nicht nur Nostalgie, sondern auch eine besondere Unmittelbarkeit verlieh.

„Die Erinnerung vergoldet alles“, sagte Anatol Regnier. Doch sein Lächeln und seine funkelnden Augen machten klar, dass der Schriftsteller und Musiker aus Ambach, Sohn des Schauspielers Charles Regnier und Enkel von Frank Wedekind, um die Ambivalenz der Nostalgie weiß. Und, dass man sich auf so eine Zeitreise besser nicht ohne eine gewisse (selbst)ironische Distanz begeben sollte. Zugleich ist der Schlager aber auch ein „Spiegel der Gesellschaft“, sagte Regnier. Und so flanierte das Trio anhand von berühmten deutschen Schlagern und verbindenden kurzen Texten von Regnier durch 40 Jahre Zeit- und Gesellschaftsgeschichte.

Begleitet von Holley auf dem E-Piano zeigte vor allem die charismatische Julia von Miller ihr sängerisches Können, ihre Wandelbarkeit und Bühnenpräsenz. Den wunderbar frechen, koketten Ton von Claire Waldoff („Raus mit den Männern aus dem Reichstag“) aus den Zwanzigern traf sie ebenso gut wie das träumerische „Nur ein Viertstündchen Liebe“. Dazu Hollays wirklich gute Klavierbegleitung: Da stimmte nicht nur jeder Einsatz, er wusste pointiert und prägnant zu spielen, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Ja, der Schlager: „Kein Genre verspricht Glück auf einfachere Weise, keines ist näher am Puls der Zeit“, erklärte Regnier. Und deshalb war es kein simpler, himmelblauer Nostalgiereigen oder seichte Unterhaltung, welche die drei Protagonisten präsentierten. Nicht zuletzt die treffsicheren und geistreichen Texte von Regnier sorgten für eine sinnfällige Verbindung der Lieder und hintergründige Einbindung in den historischen Kontext. Das Publikum erfuhr, dass Bruno Balz, der Texter von Zarah Leanders Klassikern „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ und „Davon geht die Welt nicht unter“ als Homosexueller im NS-Staat stets gefährdet war und nach seiner Rückkehr aus der Haft diese Durchhalte-Parolen schrieb.

Ein Titel wie „Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da“, das Gustaf Gründgens 1938 in dem Film „Tanz auf dem Vulkan“ sang, trägt dagegen subtile Botschaften („Rebellion“), aber auch zeitlos schöne Wahrheiten: „Die Nacht, die man in einem Rausch verbracht, bedeutet Seligkeit und Glück.“ Überhaupt fanden sich Zeilen voll Esprit und Witz, wie „Wenn ich mir was wünschen dürfte, möchte ich etwas glücklich sein. Denn wenn ich gar zu glücklich wär’, hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein“ von Friedrich Hollaender. Traurig war das Publikum indes nicht, höchstens damit, dass nach knapp eineinviertel Stunden schon wieder Schluss war. Kultur und Geschichte so unprätentiös und nonchalant serviert und trotzdem anregend, das wünschte man sich öfter.

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