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Vorbereitungen der Passionsspiele Oberammergau 2020

Am Anfang war das Wort

Oberammergau, 9.12.2019 – Dass an diesem Abend ausgerechnet ein Supermarkt im Nachbarort Barttrimmer im Angebot hat, kann nur ein schlechtes Geschäft sein. Oder ein Scherz. Schließlich dürfte flächendeckend bekannt sein, dass die Protagonisten der weltbekannten Oberammergauer Passionsspiele stets seit Aschermittwoch des Vorjahres ihre Haare und die Männer auch die Bärte per Erlass wachsen lassen müssen. Und so nimmt es nicht wunder, dass ganz offensichtlich kein Oberammergauer dort zugreift: Als sich etwa 150 der insgesamt mehr als 2400 Darsteller aus dem Ort am Samstag im Kleinen Theater zur ersten Leseprobe versammeln, tragen fast alle bereits die Haare lang und die Bärte buschig – passend auch zu einer eiskalten Nacht im Dezember mitten in den bayerischen Bergen.

Nur Spielleiter Christian Stückl, der die Passionsspiele nun schon zum dritten Mal inszeniert, bleibt beim Fünftagesbart, fährt sich aber auffallend oft mit den Händen durch die inzwischen grauen Locken. Vielleicht ist es Nervosität, vielleicht aber auch die freudige Anspannung, die ihn an diesem Abend antreibt. Denn es ist die erste Leseprobe, und nicht nur die Darsteller, auch die Presse und somit die Öffentlichkeit gewinnen einen ersten Eindruck von den Aufführungen, die 2020 zum 42. Mal in Oberammergau stattfindenwerden.

Von da an war die Pest gebannt.

Dann wird wieder das Gelübde eingelöst, alle zehn Jahre die Passion aufzuführen. In der Tat war für die Oberammergauer und den Rest der Welt alles aus den Fugen damals, 1633. Der dreißigjährige Krieg hatte erst Halbzeit, marodierende Schweden zogen durchs Land und die Pest ging um. Oberammergau aber war bis dato verschont geblieben und entzündete die Pestfeuer nur zur Abschreckung. Doch Kaspar Schisler kam heimlich zurück und brachte die Pest mit. Ausgerechnet an Kirchweih war das, und binnen kurzer Zeit hatte er 84 Dörfler mit der tödlichen Seuche infiziert. Die ganze Welt weiß, wie die Oberammergauer die kollektive Dahinraffung doch noch verhinderten: Sie gelobten, bis ans Ende der Zeit alle zehn Jahre die Passion aufzuführen, von da an war die Pest gebannt.

Neben den doppelt besetzten 42 Hauptdarstellern wie Jesus, Maria, Judas, Kaiphas oder Pilatus sind an diesem Abend zur ersten Leseprobe auch alle kleineren Sprechrollen, die Apostel, die römischen und jüdischen Soldaten, der Hohe Rat und die Frauen im Gefolge Jesu anwesend. Die schiere Menge an Darstellern, die übrigens alle in Oberammergau geboren sind oder dort seit mindestens 20 Jahren leben müssen, bedingt zugleich einen Positionswechsel: Während sie kreisförmig im Auditorium des Kleinen Theaters Platz finden, darf die Presse auf die Bühne und von oben zuhören. In zwei großen, gelben Kisten lagern die Textbücher, druckfrisch und in zwei Teile unterteilt, weil es ein Problem in der Druckerei gegeben hat.

„Wir hakeln nicht miteinander, aber setzen uns auseinander“

Ausgeteilt wird der erste Teil allerdings nur an die Protagonisten. „Erste Fassung zur Leseprobe“ steht darauf vermerkt, und Stückl betont, dass es „work in progress“ sei: „Das kann sich noch ganz schön verändern und wird sich auch verändern.“ Zwar habe er den Text geschrieben, doch der Theologe und katholische Professor Ludwig Mödl prüfe, ob die Aussagen und Inhalte auch korrekt seien. „Wir hakeln nicht miteinander, aber setzen uns auseinander“, sagt Stückl mit einem Augenzwinkern. Und manchmal schreibe er auch Dinge, von denen der Theologe klar sage, dass stehe so nicht in der Bibel. „Ja, aber in der Bibel steht ja gar nichts drin“, erklärt der Spielleiter den Anwesenden im Kleinen Theater. Und gibt auch gleich ein Beispiel: Über den Hohen Rat etwa stehe lediglich geschrieben, dass er sich versammelt habe und sie beschlossen hätten, dass Jesus sterben müsse. Doch auf der Bühne brauche es eben mehr, den Konflikt, die Debatten, die Gründe. So wie dieses Beispiel gebe vieles Grundlage zur Diskussion „ist es richtig erfunden oder ist es falsch erfunden?“. Zudem hat der Spielleiter, der selbst aus Oberammergau stammt, auch mehrere Gespräche mit Vertretern des Judentums – unter anderem bei Besuchen in Israel und den USA - geführt. Immer wieder gab es Stückl zufolge in der jüngeren Vergangenheit, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, berechtigte Vorwürfe, dass der Text antisemitisch sei. Stückl arbeitet seit seiner ersten Passion 1990 intensiv daran, diese Antisemitismen aus der Inszenierung zu tilgen.

Fest steht folglich, dass die neu inszenierten Passionsspiele auch mit einem umfassend überarbeiteten Text aufwarten werden. In der Tradition der Passionsspiele lag seit je her die Leidensgeschichte Jesu im Fokus der Aufführung. Schon in den vergangenen zwei Passionsspielen legte der Spielleiter ein größeres Augenmerk auf die Botschaft und das Leben des Jesus von Nazareth. Dies wird bei den Spielen 2020 noch einmal erweitert, betont er und hebt besonders die sozialen Aspekte in Jesu Botschaft hervor. „Jesu Wirken am Rande der Gesellschaft, sein Engagement für die Vergessenen, Vertriebenen und Armen bildet den Mittelpunkt der Inszenierung“, so Stückl. Und auch wenn die Darsteller an diesem Abend lesen und noch nicht spielen, so wird schnell deutlich, dass in den Worten viel Herzblut, viel Bewegendes und auch manch Erhellendes stecken wird.

Der Abend im Kleinen Theater hat aber auch eine weitere Funktion: Die große Gruppe der Darsteller muss und will langsam zusammenfinden. Und so wird in den Pausen, während Funk und Fernsehen Interviews führen, auch viel geratscht und gelacht unter den Darstellern. Sie wollen die Tradition nicht nur bewahren, die Oberammergauer, sondern ihr neues Leben einhauchen, und das tun sie mit außerordentlicher Leidenschaft.

Premiere feiern die 42. Oberammergauer Passionsspiele am 16. Mai 2020. Bis zum 4. Oktober 2020 wird es insgesamt 103 Aufführungen geben, fünf Mal pro Woche.

Nähere Informationen sowie Karten und Spielpläne unter www.passionsspiele-oberammergau.de 

Fotos: Andreas Stückl, Oberland.de


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