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Stephan Leiwe


Künstlerporträt

Grenzöffnungen für Augen und Hirn

2020-05-25, red. - Der entdeckenswerte zeitgenössische Künstler Stephan Leiwe schafft bedeutsame, sprechende Bilder von erschütternd berührender Kraft. Wie Seismographen unserer Zeit loten seine Werke die Facetten des Menschlichen aus. Ein Porträt.

Dass Kunst von Können kommt, ist eine viel zu oft zitierte, aber wesentlich seltener ausgeführte Maxime. Umso mehr sticht es heraus, wenn in der Kunst der Bogen zwischen diesen Polen nicht nur gespannt wird, sondern das Ergebnis weit mehr ergibt als die Summe dieser Teile. Das aber trifft auf die Kunst von Stephan Leiwe zu. Als Porträtmaler stößt er mit wenigen Strichen zum Wesen einer Persönlichkeit vor. Mit seinen Landschaftsskizzen hält er Stimmungen fest, die mehr Empfindungen transportieren denn der flüchtige Augenblick selbst. Mit seinen Themen erarbeitet er die Geschichte und transportiert gesellschaftliche Inhalte. Unabdingbar also, diesen Künstler und seine Werke endlich näher kennenzulernen.

Künstler und Architekt, ein Polyhistor im positiven Sinne

Am Anfang war der Drang. Und die Begierde. Danach, mehr zu erfassen, zu ergründen, sich tiefer auseinanderzusetzen – mit Eindrücken, Anblicken, Themen. Der 1962 in Osnabrück geborene Stephan Leiwe ist vieles, was sich bedingt, aber auch gegenseitig befruchtet: Künstler und Architekt, ein Polyhistor im positiven Sinne, ein Handwerker der Struktur, ein vielschichtiger Sammler von Augenblicken und Momenten, und ein Ergründer der menschlichen Seele. Etwas, das Leiwe schon seit seiner Kindheit begleitet: „Ich habe schon immer gemalt. Ich erinnere mich an Fahrten mit meinem Vater, da fing es schon an, und das Malen, das Zeichnen, das war immer schon ein bisschen meine Sprache“, sagt er. In mancherlei Hinsicht erinnern die Beschreibungen seines Werdens und Schaffens an einen Flaneur, jene Erfindung des 19. Jahrhunderts eines entschleunigten Spaziergängers, der die Stadt durchstreift und „Bilder“ sucht, „wo immer sie hausen“, folgt man der Interpretation von Walter Benjamin. Ein, so der Schriftsteller, „Priester des genius loci“. Doch bei Leiwe hat das Beobachten, das Festhalten in Skizzen, Zeichnungen und manchmal auch Fotos, nicht nur Beiläufiges, sondern auch Getriebenes. „Es war und ist für mich ein Muss, zu zeichnen“, sagt er. Und so entstehen seine Werke aus jener seltenen Mischung aus Könnerschaft und freiem Schöpfen, durch jemanden, der aus einem innerem Antrieb heraus arbeitet. Deswegen passt vielleicht eher Charles Baudelaires denn Benjamins Begriff des Flaneurs, der damit jene umschrieb, deren Geist „unabhängig, leidenschaftlich, unparteiisch“ sei.

„Ich versuche, Menschen zu verstehen, indem ich sie darstelle“,

Was Leiwes Bilder über die malerische Qualität hinaus auszeichnen – Bilder, die für jeden Betrachter eine Welt eröffnen – sind die Dynamik und die große Sicherheit des Duktus. Kern der Themen des Architekten und Künstlers ist die Auseinandersetzung mit architektonischen Ideen, in Verbindung mit dem „Beobachten-Lernen von Menschen“, wie er selbst sagt, insbesondere in ihrer – oft kulturellen – Umgebung. „Ich versuche, Menschen zu verstehen, indem ich sie darstelle“, sagt er. Das Beobachten-Lernen sei eine Folge der intensiven Beschäftigung mit den Mitteln der Malerei und Grafik, und die Zeichnung ein wesentliches Medium in der architektonischen Entwurfsentwicklung. Leiwes Spektrum an Themen ist beeindruckend groß, und entsprechend umfassend ist sein Oeuvre – Betrachter verdanken das seiner Liebe zur Kunst, sei dies nun Theater, Literatur oder bildende Kunst, und daraus resultierenden persönlichen Begegnungen, ja teils Freundschaften mit Architekten, Gelehrten und Künstlern, mit und durch die er unermüdlich, konsequent und kompromisslos nach Themen tauchte und bis heute aus diesem Reservoir schöpft.

Doch zunächst kurz zu seinem Werdegang: 1981 machte er sein Abitur und nahm ein Jahr später das Studium der Architektur an der Universität Hannover auf. Hier konzentrierte er sich auf den Bereich ländliches, regionales Bauen, und setzte sich mit dem Städtebau auseinander. Parallel experimentierte Leiwe mit den Ausdrucksmitteln der Kunst, lotete beispielsweise die Möglichkeiten der Lithographie und der Malerei aus, stets getrieben von der Neugierde, seine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern und dazuzulernen. „Die Frage einer Spezialisierung hat sich bei mir nicht gestellt“, sagt er, denn das Zeichnen und die Architektur gingen bei ihm immer Hand in Hand. Leiwe arbeitete intensiv mit Professor Friedrich Spengelin (Städtebau und Entwurf) zusammen und arbeitete am Institut für Darstellung, Abteilung Malerei und Grafik bei Professor Detlef Kappeler mit. Hier wurde Leiwe ausgebildet in malerischen und grafischen Techniken, darunter Ölmalerei, Dispersion, Acryl oder Tempera, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Von 1983 an wurde er wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Malerei und Grafik. Ein Jahr darauf beschäftigte er sich intensiv mit dem Menschen auf der Straße und kam so der Abbildung näher, die über das Gegenständliche hinaus Einsichten bietet in Stimmungen, Augenblicke, Geschichte und Seele.

1985 konnte der Student ein halbes Jahr in Paris verbringen und vertiefte sich vor Ort weiter in die Thematik der Menschen in ihrer Umgebung. Er zeichnete in Kneipen, auf der Straße, in Kirchen und besuchte obendrein Vorlesungen an der École des Beaux-Arts. Ein Jahr später hielt er sich wiederholt in Wien auf und kam dort in Kontakt mit Burghard Schmidt, einem Schüler von Ernst Bloch, damals Lehrbeauftragter unter anderem an der Kunstakademie in Wien und der Uni Hannover. In dieser Zeit entstand unter anderem sein Radierzyklus „Wien“. Die prägenden Gespräche setzten sich fort, unter anderem mit dem Schriftsteller und späteren Büchner-Preisträger Erich Fried, und Leiwe beschäftigte sich zu dieser Zeit auch intensiv mit Carl von Ossietzky. Nachdem er 1988 sein Architekturstudium mit seiner Diplomarbeit mit „summa cum laude“ beendete, erhielt er das das Laves-Reisestipendium und konnte sich mehrere Wochen lang in London aufhalten, wo seine Radierzyklen „Dockland“ und „Brixton“ entstanden. Stephan Leiwe stellt sich damals auch sich an der Royal Academy of Arts vor – doch weil sein Vater starb, konnte er in London keine weiteren Kurse besuchen und kehrte zurück.

Seit 1989 arbeitet Leiwe nun schon als freier Architekt in Melle, entwirft mit seinen Mitarbeitern Häuser, Hallen oder restauriert denkmalgeschützte Gebäude. Das Zeichnen architektonischer Entwürfe, die er in der Tat stets mit der Hand fertigt, betrachtet er als kreativen Prozess ebenso wie als Handwerk.

Doch für einen Mann wie Leiwe ist das natürlich nicht genug: Während sein Architekturbüro aufblühte und er vielfältige Projekte umsetzte, war er elf Jahre lang zudem als Lehrbeauftragter an der Uni Hannover am Institut für Malerei und Grafik tätig. Immer wieder nahm er auch an internationalen Wettbewerben teil. So zum Beispiel 1997 am Wettbewerb für das Sklavenmuseum in Dakar, das mit einem Aufenthalt im Senegal verbunden war. Zwei Jahre später reiste Leiwe in die Mongolei, genauer gesagt nach Ulaanbaatar. Zum einen, um sich städtebaulich mit dem örtlichen Präsidentenviertel auseinanderzusetzen. Aber eben auch, um die mitgebrachten Skizzenbücher zu füllen mit Zeichnungen vor Ort. Skizzen, die mal für sich alleine stehen, oder aber die später der malerischen Vertiefung dienen. Und als wäre das nicht rastlos genug, fungiert Leiwe seit 2001 auch noch als Bühnenbildner an der Waldbühne Melle. 2005 schloss sich ein Aufenthalt in Südafrika an, ein für Leiwe nachhaltig beeindruckendes Erlebnis. Denn der dunkel lockende Kontinent, wie es Karen Blixen einst formulierte, bringe „ganz klasse Menschen hervor, unglaublich starke Menschen.“ Dort sollte Leiwe Entwürfe für die Ausstattung einer Kirche fertigen, und die Begeisterung über die Erlebnisse und Begegnungen dort schwingt bis heute nach. Was er schließlich in Skizzen, Farbzeichnungen und Ölbildern einfing, mündete in einer eigenen Ausstellung, zu der sogar ein afrikanischer Chor nach Deutschland kam.

Seine Werke sind auch Seismografen der Zeit

Der Künstler Stephan Leiwe misst aber nicht nur geographisch große Spannbreiten aus, sondern eben auch inhaltlich. Damit werden seine Werke auch zu Seismografen der Zeit. Auch wenn er immer wieder Szenerien en plein air festhält und damit eine Art Adalbert-Stifter-Existenz heraufbeschwört, liegt darin nur die halbe Wahrheit. Denn eigentlich ist der Maler zugleich: ein Universalgelehrter, mit allen Wassern der zeitgenössischen Diskurse gewaschen. Und so steckt in seinen Bildern eben auch eine Menge Tiefe: „Die Themen sind eine wichtige Sache“, sagt Leiwe. Er ist nicht nur umfassend interessiert an Literatur und Geschichte, er ist sich auch der Verantwortung bewusst, die er thematisch in den Bildern aufgreift, etwa wenn er Menschen aus den Townships zeichnet oder den großen Nelson Mandela. Wenn er rechtsradikale Aufmärsche, einer „erwachenden Ursuppe“ gleich, auf blutrote Hände reduziert oder einen Gregor Gysi porträtiert. Wenn Helmut Kohl gelbstichig unter vielen schwarzen Konturen und vor einer einzelnen roten Figur aufleuchtet. Wenn er der „großen Sozialistin“ Rosa Luxemburg zeichnerisch nachspürt, oder die deutsch-deutsche Geschichte treffend konzentriert. Wenn er Verfolgten ein Gesicht gibt. In diesen Bildern stecken Widerhaken, der einen an die Hintergründe zu denken zwingt und darüber hinaus. „Um Zeiten zu verstehen, muss man die Menschen verstehen“, sagt er dazu.

2015 wird Leiwe Zweiter Vorsitzende des Kunstvereins Melle. Sein eigenes Atelier aber muss man sich wohl vorstellen wie eine Schatzkammer voller Skizzenbücher, in denen Beobachtungen, Landschaften, Stimmungen, Eindrücke und Menschen festgehalten sind. Natürlich hat ein Künstler seines Formats längst seinen eigenen Weg, einen eigenen Stil, und trotzdem gibt es Vorbilder, Künstler, deren Werke ihn bis heute nachhaltig prägen. Kokoschka etwa, oder Picasso, aktuell auch Boticelli. Doch man sollte sich hüten, Leiwe in eine Schublade zu stecken. Umschreiben lassen sich seine Werke allerdings zumindest als spontan, beobachtend, intensiv. Meist laufen die Darstellungen nur so aus der Feder oder dem Pinsel, erzählt er im Gespräch. Dass er mehrere Tage an einem Bild arbeite, sei selten. Lange arbeitete er vorwiegend mit Ölfarben, derzeit eher mit Acryl, ab und an auch mit Pastell, Kohle, Kreide, Bleistift. „Aber im Moment komme ich mit Acryl gut zurecht“, sagte er. Dieser Drang es Zeichnen-Müssens, für ihn noch immer eine Lust: „Wenn man Dinge im Kopf hat, muss es raus, da hat man immer Zeit, es stresst nicht.“ Und für ihn ist die Hand das Werkzeug des Kopfes: „Ich lasse mich selbst überraschen. Man muss Vertrauen ins Köpfchen haben“, lacht er.

Dem Rezipienten offenbaren sich beim Betrachten der Werke fremde und doch vertraute Sphären, die unweigerlich in ihren Bann ziehen. Leiwes Werke erinnern zumeist an leicht unscharfe Schnappschüsse und Momentaufnahmen. Augenfällig sind die verwischten Konturen und Materie, die sich aufzulösen scheint. Lyrisch enthoben und zugleich atmosphärisch dicht. „Es ist keine Tapetenkunst, nicht dekorativ, nicht gestalterisch. Natürlich gäbe es einfach nur schöne Dinge, die man darstellen könnte, aber das ist nicht mein Thema“, sagt er. Für ihn liegt das Faszinosum vielmehr darin, Verschiedenartigkeiten zu entdecken und festzuhalten. „Wenn man zum Beispiel in einer Stadt wie Dakar oder Paris ist, das ist irre, was es da für Menschen gibt“. Er spreche sie vielleicht nicht immer an, aber er beobachte, und zeichne eben. In dem er ihre Gesichter, ihre Haltung, ihre Gesten nachzeichne, versuche er, sie zu verstehen. Wichtig ist Leiwe dabei, stets unvoreingenommen zu beobachten: „Es ist eher eine dokumentarische Herangehensweise. Vorurteile habe ich noch nie versucht, zu haben“.

Leiwe hat das große Glück, sich nicht nach Markttendenzen richten zu müssen. „Es ist ein riesen Gut, frei denken zu können, frei zeichnen zu können, frei arbeiten zu können“, weiß er. In Worten kann man sie jedoch nur unzureichend beschreiben. Weshalb es umso dringender notwendig ist, selbst einen Blick auf die Kunst von Stephan Leiwe zu richten und sie zu entdecken. Zum Beispiel hier mit seinem Katalog, oder aber mit der nächsten Ausstellung, die den Titel „Arkadien“ tragen wird, in Zusammenarbeit mit dem Künstler Dr. Hubert Manke. Stephan Leiwe schafft dabei auf handwerklich höchstem Niveau Welten, in denen sich Mythen, Figuren, Hybride, Träume Wesen und Figuren in die Landschaft formen und die Realität aus den Fugen geraten lassen, um daraus für den Betrachter etwas vielschichtig Beredtes wachsen zu lassen.

Überhaupt, die Betrachter: Ohne sie geht es nicht. Leiwes Werke klingen lange nach. Man muss nur eines tun: Mit ihnen auf Entdeckungsreise gehen. Kunst also, die mehr ist als nur sehen und gesehen werden: Grenzöffnungen fürs Auge und für´s Hirn.


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